Interview mit Eddie Joyce über seinen Debütroman »Bobby«

Eddie Joyce
»BOBBY« – Roman
Aus dem Englischen
von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring
Erscheinungstermin: 13. Juni 2016

Ein Gespräch mit Eddie Joyce über seinen
Debütroman »BOBBY«
von Richard Russo, The Rumpus vom 20.04.2015

„Staten Island kommt den meisten wohl als letzter Stadtbezirk in den Sinn, wenn sie an New York denken. Was unterscheidet ihn von den vier anderen? Was glauben Sie, würde die Leute am meisten über Staten Island erstaunen?

Ja, im Kopf der meisten Menschen ist Staten Island ganz sicher der fünfte von fünf Stadtbezirken. Er unterscheidet sich vom Rest der Stadt in vielerlei Hinsicht: geografisch, demografisch, politisch und sogar architektonisch. Er ist bei Weitem der vorstädtischste, Teile der Insel sind immer noch ländlich, obwohl das bald verschwunden sein wird. Es gibt sehr wenige hohe Gebäude, keine U-Bahn, und es geht viel ruhiger zu. Von allen Bezirken fühlt er sich am wenigsten nach New York an.

Andererseits findet man kaum irgendwo echtere New Yorker als dort. Wer auf Staten Island lebt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch dort geboren oder von Brooklyn hergezogen. Das hat sich in den letzten zehn Jahren etwas geändert, seit mehr Immigranten auf die Insel kommen, aber es ist immer noch größtenteils so. Die meisten arbeiten in oder für die Stadt: Polizisten, Feuerwehrmänner, Lehrer. Im ganzen Bezirk spürt man eine alltagserprobte Sensibilität: Geprägt von Arbeitern und der Mittelklasse, die die guten und schlechten Zeiten New Yorks durchlebt haben, die nie vom Besseren profitiert haben und umso mehr vom Schlechten abbekommen haben. Es sind Leute mit ganz gegensätzlichen Qualitäten: knallhart im Nehmen und warmherzig, schroff und freundlich. Und trotz der rasch wachsenden Bevölkerung wirkt Staten Island immer noch wie eine Kleinstadt. ADVANCE, die Lokalzeitung von Staten Island, ist das meistgelesene Blatt. Die Highschools halten alle zusammen. Und die Insellage befördert diesen Status im Guten wie im Schlechten. Also ist es wie eine Kleinstadt, bevölkert von sarkastischen New Yorker Überlebenskünstlern. Einfach herrlich!

Wie war es, auf Staten Island aufzuwachsen? Wie hat es sich seither verändert?

Auf Staten Island aufzuwachsen, war großartig. Ich lebte in Tottenville, der südlichsten Stadt auf der Insel. Ich konnte bis zur 8. Klasse zu Fuß zur Schule gehen. Es gab eine Menge Wäldchen, wo man spielen, viele Orte, an denen man sich verirren konnte. Es gab sogar einen Friedhof für Fähren! Das hat sich alles enorm verändert während meiner Kindheit und Jugend. Viele der Freiflächen wurden ausgebaut – und das im Übermaß. Die Bevölkerung, vor allem im Süden, wuchs explosionsartig an. Einiges vom Kleinstadtfeeling verschwand. Aber alles in allem war es wunderbar. Und jetzt verändert sich die Insel erneut, da die Arbeiter unter den Immigranten aus anderen Teilen der Stadt rausgentrifiziert werden und hier ein besseres Leben für ihre Familie suchen. Ich denke, die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre werden sehr spannend.

Was hat Sie dazu bewogen, Ihren ersten Roman dort anzusiedeln?

Ich habe ein Buch über Staten Island geschrieben, weil es ein Ort ist, dessen Geschichte erzählt werden sollte. Es wurden Tausende Bücher über Manhattan geschrieben, fast ebenso viele über Brooklyn. Die Bronx hat ihre Barden. Sogar Queens ist in letzter Zeit bedacht worden. Aber Staten Island blieb immer vergessen, still. Ich dachte, das sollte man ändern. Es ist wichtig, woher man kommt, und ob man will oder nicht, man entkommt ihm nie.

Und ich wollte die Geschichte von Innen erzählen. Staten Island kommt in der Alltagskultur nicht oft vor, aber wenn, dann immer unter dem gleichen Klischee: „Städter kommen nach Staten Island, treffen menschenfeindliche Einwohner, die rassistische oder antisemitische Bemerkungen machen, die Städter kehren zurück und schütteln den Kopf.“ Staten Island ist immer der Arsch bei Witzen über New York. Ich wollte eine vollständigere Geschichte über die Menschen schreiben, mit denen ich aufgewachsen bin. Ja, sie mögen Fehler haben, wer hat das nicht – aber sie haben auch eine Belastbarkeit und eine Art von Würde, die oft übersehen werden. Ich will sie mit all ihrer Schönheit, ihrem Schmerz, ihren Stärken und ihren Fehlern zeigen. Will denen eine Stimme geben, die in der eigenen Stadt im Exil leben.

»BOBBY« ist die Geschichte einer Familie, und Sie scheuen nicht vor den Schwierigkeiten und Freuden des Familienlebens zurück. Wie sind die Amendolas in Ihrem Kopf gewachsen? Was hoffen Sie mit dieser besonderen Familie dem Leser zu übermitteln?

Ich wollte eine echte Familie in all ihrer chaotischen Pracht zeigen. Familien sind großartig, bizarr, verwirrend. Jede hat ihre eigene Mythologie, wer sind die einzelnen Personen in der Gesamtheit und wie sind die Rollen verteilt? Im Kontext unserer Familien, so denke ich, fallen wir alle in Muster zurück, deren Regeln wir nicht bewusst wahrnehmen. Und viele positive Eigenschaften können in negative umschlagen innerhalb der Familie. Die Amendolas sind eine sehr belastbare, loyale Familie, und das ist bewundernswert. Aber Loyalität und Belastbarkeit können auch in Dysfunktionalität abgleiten, und ich denke, dass das bei den Amendolas auch passiert, vor allem in Hinblick darauf, wie sie mit Franky umgehen und wie sie Wade entgegentreten.

Vieles im Roman dreht sich um Gail Amendola, die Mutter. Warum ist ihre Stimme so zentral?

Die ursprüngliche Idee zu der Familie war ganz einfach: eine mittelalte Frau – sie hieß von Anfang an Gail – geht am Strand spazieren und unterhält sich mit ihrem toten Sohn. Ich habe eine Kurzgeschichte darüber geschrieben, NULLA, die schon viele Elemente des späteren Romans in sich trug. Aber sie war zu vollgepackt für eine Kurzgeschichte. Also ließ ich sie atmen, sozusagen, und ließ mich von Gail mitnehmen dahin, wo sie mich hintrieb. Sie brachte Tina und Maria und Michael und Enzo ins Spiel. Und Franky. Jedes Mal, wenn ich mich zu verlieren drohte, kehrte ich zu Gail zurück, ließ sie etwas Alltägliches tun: am Stand spazieren, am Küchentisch sitzen, kochen, mit der Fähre fahren. Und das ergab die Struktur des Buchs: Gail ist immer wieder ein Kapitel gewidmet, und sie verbindet die manchmal disparaten Seelen. Nur Peter ist anders. Sein Kapitel spielt als einziges hauptsächlich außerhalb von Staten Island. Er ist das am meisten isolierte, einsamste Familienmitglied. Sein Leben ist komplett anders als das seiner Eltern. Auch hier ist Gail das Bindeglied: Sie kommt ihn in Manhattan besuchen.

Hatten Sie für Gail eine reale Vorlage?

Gail ist ein Amalgam aus den sehr starken, klugen Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin. Meine Großmutter väterlicherseits wurde Witwe, als mein Vater sieben war. Sie musste ihn allein aufziehen mit sehr wenig Geld. Meine Großmutter mütterlicherseits zog fünf Töchter auf und musste später wieder zu arbeiten anfangen, als sie sich hatte scheiden lassen. Sie ging nie auf das College, war aber die belesenste Person, die ich kannte. Meine Mutter war auch sehr intelligent, hatte aber nur wenige Berufsmöglichkeiten. Damals hatten kluge Frauen aus dem Arbeitermilieu eigentlich nur die Wahl zwischen dem Lehr- und Pflegeberuf. Meine Mutter wurde Lehrerin (sie liebte ihre Tätigkeit), setzte aus, um die Kinder großzuziehen und fing danach wieder an zu arbeiten. Nebenher gab sie Privatstunden, um etwas dazuzuverdienen.

Während meiner Kindheit waren die meisten Familien auf Staten Island traditionell in den Geschlechterrollen, der Mann arbeitete, die Frau blieb meist zu Hause. Trotzdem waren diese Familien im Grunde matriarchalisch: Die Mutter war das Herz der Familie, und auch ihr Kopf. Sie fällte alle wichtigen Entscheidungen, sie kümmerte sich um die Finanzen. Oft arbeiteten die Frauen auch, zumindest Teilzeit. Und ich denke, Gail steht für all das. Ohne Frage, sie ist das Zentrum der Familie Amendola.

»BOBBY« wird viele Amerikaner tief berührt haben, vor allem diejenigen, die am 11. September 2001 jemanden verloren haben. Wieso haben Sie dieses Thema in das Buch aufgenommen?

Es war keine leichtfertige Entscheidung. Manchmal habe ich überlegt, ob Bobby nicht bei irgendeinem Feuer ums Leben kommen sollte oder bei einem Unfall, der nichts mit seiner Arbeit als Feuerwehrmann zu tun hat. Aber das wäre eine feige Entscheidung gewesen, so als ob man den Elefanten im Zimmer ignoriert, weil es schwierig ist, darüber zu schreiben.

(Übersetzt und gekürzt von Karin Kirchhof)“1)

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1) Pressemitteilung: Deutsche Verlags-Anstalt, Presseabteilung, www.dva.de, 23 Mai 2016

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