Erzähltextanalyse: »Bahnwärter Thiel« von Gerhart Hauptmann

»Bahnwärter Thiel« von Gerhart Hauptmann

Die 1892 von Gerhart Hauptmann publizierte novellistische Studie »Bahnwärter Thiel« zeichnet ein Bild des zunehmend wahnsinnigeren Thiels, der daran verzweifelt nichts für seinen misshandelten Sohn zu tun. Auf dem Höhepunkt der Wahnsinnigkeit Thiels spitzt sich die Handlung auf dramatische Weise zu.

Im nachfolgenden Text soll Thiels Psyche analysiert und interpretiert werden. Insbesondere soll durch die sprachliche Gestaltung die Wahl des Untertitels „novellistische Studie“ begründet werden. Dieser wurde von Gerhard Hauptmann wohl gewählt, um die Symbiose zwischen der Novelle und der untersuchenden Studie von Thiels psychische Veränderung, hier insbesondere durch Natur- und Farbsymbolik ausgedrückt, deutlich zu machen.

Der vorliegende Textauszug aus Schöningh Schulbuchausgabe (Seite 22 und 23) ist im Gesamtwerk hinter der Textstelle einzuordnen, in der Thiel zum ersten Mal Tobias Misshandlung durch Lene miterlebt und nichts dagegen tut. Wieder zurück in seinem Bahnwärterhäuschen macht Thiel sich Vorwürfe deswegen und ist wütend auf Lene, da diese vorhat, in Minnas Welt einzudringen. Durch dieses Nachdenken verfällt er erneut in Wahnvorstellungen. Die Erzählperspektive ist personal und die Textstelle ist in der Er-/Sie-Form geschrieben. Es handelt sich um eine zeitraffende Zeitstelle, da Thiel die Leidensgeschichte seines Älteren durchläuft, was als ein Satz erwähnt wird (vgl. S. 22 Z. 25 ff).

Der Satzbau ist überwiegend hypotaktisch, wodurch insbesondere Thiels Wahnsinn und Wahnvorstellungen verstärkt werden. Auch das Rufen nach seiner längst verstorbenen Frau auf Seite 23 in Zeile 2 zeigt Thiels geistige Verwirrung.

Die Verwendung von Farb- und Natursymbolik gibt dem Leser ein klares Bild von Thiels Psyche. Eine Metapher für Thiels steigernden Wahnsinn findet man in Zeile 11 durch den Ausdruck „umnebelte[n] Augen“. Weitere Ausdrücke, die ein Zeichen für Thiels Wahnsinn darstellen, sind „dichter schwarzer Vorhang“ (vgl. S. 22 Z. 19 f) und „dunkle Erdatmosphäre“ (vgl. S. 23 Z. 16 f). Auch der tiefe, grollende Donner am Nachthimmel (vgl. S. 23 Z. 22 f) lassen Vorausahnungen auf das dramatische Ende zu, denn der Donner jagt vielen Menschen Angst ein.

Der Satz ab Seite 23 Zeile 15, in dem eine bläuliche Flamme von der dunklen Atmosphäre erstickt wird, kann als Zeichen gedeutet werden, dass es für Thiel schon zu spät ist, da blau – die Farbe der Hoffnung – erlischt und durch Dunkelheit ersetzt wird.

Thiels innere Zerrissenheit, die zwischen der sinnlichen, geistigen Liebe zu Minna und der triebgesteuerten Liebe zu Lene, wird auch in diesem Textauszug deutlich (vgl. S. 22 Z. 28 – 33 und Z. 7 – 10). Auf Seite 22 Zeile 25 ff macht er sich selbst Vorwürfe, weil er Tobias – als Teil von Minnas Welt – nicht besser schützt und auch in Zeile 11 ff entwickelt er Selbsthass, weil er Lene nicht daran hindert in seine Arbeitswelt – Minnas Welt – einzudringen. Außerdem untersucht der Autor auch die körperlichen Veränderungen (vgl. S. 23 Z. 3 – 7), die mit Thiels Wahnvorstellungen einhergehen.

Im Hinblick auf die Aufgabenstellung kann man sagen, dass Gerhard Hauptmann den Untertitel gut gewählt hat, da er sowohl eine doch recht interessante Geschichte als auch eine medizinische Studie samt Darstellung von Thiels psychischer Veränderung sowohl durch aussagekräftige sprachliche Darstellungen mit insbesondere Farb- und Natursymbolik als auch Dokumentationen der körperlichen Veränderungen geschrieben hat.

Bezug: Schöningh Schulbuchausgabe – Seite 22 und 23

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