Fliehkräfte

Warum ist Hartmut nicht glücklich?

06.11.2012: Stephan Thome liest im Heinrich-Heine-Haus in Lüneburg aus seinem Roman „Fliehkräfte“.

Autor: Stephan Thome

Klappentext:

„Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig und hat alles erreicht, was er sich gewünscht hat: Er ist Professor für Philosophie und hat seine Traumfrau geheiratet, die er nach zwanzig Jahren Ehe immer noch liebt. Dennoch ist Hartmut nicht glücklich. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, sodass aus der Ehe eine Wochenendbeziehung geworden ist, die gemeinsame Tochter hält die Eltern auf Distanz, der Reformfuror an den Universitäten nimmt Hartmut die Lust an der Arbeit. Als ihm überraschend das Angebot zu einem Berufswechsel gemacht wird, will er endlich Klarheit: über das Verhältnis zu seiner Tochter, über seine Ehe, über ein Leben, von dem er dachte, dass die wichtigen Entscheidungen längst getroffen sind.“

„Drei Jahre nach seinem gefeierten Debüt Grenzgang gerät in Stephan Thomes neuem Roman „Fliehkräfte“ wieder einer ins Straucheln. Und mit atemberaubendem Gespür für die Niederlage, für das, was wirklich schmerzt, schickt Thome seinen Helden auf eine alles entscheidende Reise. Über Frankreich und Spanien führt sie ihn bis nach Lissabon und zugleich in die Vergangenheit, ganz nah heran an die Verwerfungen und Abgründe des gelebten Lebens.“

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Eine Leseprobe:

„Am späten Nachmittag verwandelt sich die Welt. Flaumig leichte Flocken wirbeln durch die Luft, als wären sie von der Schwerkraft ausgenommen. Lautlos füllen sie den Raum und legen eine weiß-graue Schraffur über den Campus. Seit November hängen dichte Wolken über der Stadt, und wenn die Studenten nach den Seminaren ins Freie traten, legten sie die Köpfe in den Nacken und blickten erwartungsvoll nach oben. Jetzt streicht Schnee über die Fenster der Wilson Library, ohne daran haften zu bleiben. Fahrradfahrer, die von der Brücke kommen, ziehen pulverige Schleier hinter sich her. Vor ihm auf der winzigen Arbeitsfläche liegt Empiricism and the Philosophy of Mind, seit einer halben Stunde auf derselben Seite aufgeschlagen. Gebannt schaut Hartmut nach draußen und versucht, den Weg einer einzelnen Flocke zu verfolgen. Am liebsten würde er das Gesicht gegen die Scheibe drücken und den milchigen Niederschlag seines Atems daraufmalen. Er hat sowieso keine Ahnung, was das sein soll: der Mythos des Gegebenen.

Endlich, denkt er. Wochenlang hat die Luft nach Winter gerochen, auch wenn es in Wirklichkeit kein Geruch ist, sondern eine Sehnsucht, die man erst erkennt, wenn sie sich erfüllt. Alle haben ihn gewarnt vor Stromausfällen bei dreißig Grad minus, vor eingeschneiten Häusern und eisglatten Wegen. Jetzt wird die Welt nur still, und er ist glücklich. Das Wort in seinem Kopf überrascht ihn, aber es stimmt. Um ihn herum schauen Kommilitonen von ihren Büchern auf und beginnen, miteinander zu flüstern.

Als er um halb sieben die Bibliothek verlässt, ist es draußen stockdunkel. Leer wie nie um diese Zeit streckt sich die Washington Avenue Bridge über den Fluss. Wenn Hartmut nach oben schaut, wird ihm schwindlig. Unter ihm fließt der Mississippi schwarz und beinahe geräuschlos dahin. Ein fremdes Gewässer, das er zwei Mal täglich überquert, manchmal öfter. Auf der östlichen Campusseite steht Ford Hall stoisch an seinem Platz. Benannt nach dem früheren Uni-Präsidenten und ausgestattet mit einem Vorbau aus viereckigen Säulen, trotzt das Bauwerk den dicht fallenden Flocken. Jeden Morgen steigt er hinauf in den dritten Stock, mit demselben flauen Gefühl im Magen wie vor einer Prüfung. Jetzt geht er am Gebäude vorbei durch den bereits knöcheltiefen Schnee auf der Mall. Immer die University Avenue entlang, hat Professor Hurwitz gesagt. Weil der Text partout nicht in seinen Kopf wollte, hat Hartmut ihn schließlich beiseitegelegt und stattdessen die zwei eng beschriebenen Kladden mit Notizen studiert, die er immer in der Tasche trägt. Konzentrieren konnte er sich auch darauf nicht. Kann man einen Ort vermissen, an den man nicht zurückwill? Die Rodelpartien fallen ihm ein, die Straße neben dem Haus hinab. Weil das Geld knapp war, hat sein Vater den Schlitten selbst gebaut. Hat die Kufen im Betrieb zugeschnitten und sie nach Feierabend unter das Holzgestell geschraubt, mit derselben bedächtigen Sorgfalt, mit der er jede Arbeit erledigt.

Als Dinkytown hinter ihm liegt, stapft er durch unbekanntes Gebiet. Wohnheime sind zu erkennen und vereinzelte Villen. Von den ausschweifenden Partys, die hier gefeiert werden, hört er manchmal in der Mensa, aus Gesprächsfetzen am Nebentisch. Es ist ein weiträumiger Campus mit viel rotem Backstein, knorrigen Ulmen und Gesichtern von überall auf der Welt. Aus einem der Gärten kommt ausgelassenes Gelächter, durchbricht die Stille wie dünnes Eis und bleibt hinter ihm zurück.

Jenseits der Interstate 35 kann er die Kreuzung ausmachen, hinter der sein Professor wohnt. Noch nie hat Hurwitz ihn zu sich nach Hause bestellt. Will er ihm in Ruhe erklären, warum er ihn nicht als Doktoranden annehmen kann? Dass er sich nicht in der Lage sieht, ihm in der zur Verfügung stehenden Zeit seine europäischen Flausen auszutreiben? Hurwitz‘ erster Blick auf die Berliner Kursliste wurde begleitet von vernehmlichem Stöhnen. Was, bitte schön, ist ein Autonomes Seminar? Seitdem muss Hartmut alle zwei Wochen Bericht erstatten über seine Lektüre. Jedes Wort, das er nicht kennt, schlägt er nach und schreibt es auf eine kleine Karte. Notiert die Bedeutung und den Satz, in dem es vorkommt, und fühlt sich angezogen vom Klang dieser Texte. Im Seminar stellt er sich vor, die Hand zu heben und zu sagen: This claim is flying in the face of reason. In Wirklichkeit redet er wenig und fühlt sich in Raum 304 wie auf Bewährung geduldet, jeden Dienstag und Donnerstag. Aber hat er sich bewährt, oder wird Hurwitz ihm heute Abend die Tür weisen?“

Fazit:

Eigene Meinung:

Beurteilung des Buches:

Pressestimmen:

  • LZ, lz, 01.11.2012: „Warum ist Hartmut nicht glücklich? Stepan Thomes Debüt „Grenzgang“ schaffte es sogleich auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis und gewann den aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres. Die Literaturkritik reagierte begeistert. Auch der neue Roman „Fliehkräfte“ (Suhrkamp, 2012) schaffte es auf die Shortlist.
    Thome liest aus seinem Roman am Dienstag, 06. November 2012, um 20:00 Uhr im Heinrich-Heine-Haus in Lüneburg. Die Literaturredateurin Martina Sulner stellt den Autor vor und führt das Gespräch mit ihm.“

Nominiert für den »Deutschen Buchpreis« 2012.

Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 2 (9. September 2012).

Seitenanzahl: 474 Seiten.
Bindung: Gebundene Ausgabe.
ISBN-10: 3-518-42325-8.
ISBN-13: 9-783518-42325-7.
Preis: EUR 22,95.

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